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Gastbeitrag: Eine Landschaft kann von Gott singen…

Eine spirituelle Reise durch deutsche Seelenlandschaften

Von Rüdiger Sünner

Viele Jahre lang suchte ich meine „Seelenlandschaften“ in Skandinavien oder in keltischen Ländern wie Irland, Schottland und Wales. Dort konnte ich mich leicht und innig mit spirituellen Orten oder Landschaften verbinden. Während der Dreharbeiten zu meinem Film „The Tree of Life“ über den ehemaligen UNO-Generalsekretär und Mystiker Dag Hammarskjöld (1905-1961) stieß ich auf dessen Satz „Eine Landschaft kann von Gott singen“ – und verstand ihn sofort. Hammarskjöld war zwischen seiner Arbeit als Friedensstifter in aller Welt oft durch Lappland gewandert und hatte sich dort Kraft und Inspiration für sein aufreibendes Amt geholt. Die atemberaubende Weite der nordskandinavischen Landschaft hatte ihn Demut, genaues Lauschen, Schauen und die Zurücknahme seines Egos gelehrt: Tugenden, die ihm bei seiner diplomatischen Vermittlungsarbeit halfen, für die er posthum den  Friedensnobelpreis bekam. Manchmal in Begleitung des Schriftstellers Andreas Labba, lernte Hammarskjöld in Lappland auch dessen letzte indigene Kultur Europas kennen, die Samen, für die Birkenwälder, Berge und Flüsse „heilige Orte“ waren. All das konnte ich bei unseren Drehreisen in den hohen Norden Schwedens sofort verstehen und erlebte daher diese Gegenden auch als meine Seelenlandschaften.[1]

Ähnliches erfuhr ich in den schottischen Highlands, auf den Orkneyinseln, in Irland, Cornwall und Wales: wenig berührte Landschaften, in denen man eine erfüllte Einsamkeit erleben konnte sowie die Gegenwart von uralten Kultplätzen, die weit hinter das Christentum zurückreichten. Hier erlebte ich tiefe Gefühle von Heimat und spiritueller Verwurzelung, ja man kann sagen, dass ich an diesen Orten überhaupt erst meine spirituelle Seite kennenlernte. [2]

Warum aber dauerte es so lange, bis ich in meiner eigentlichen Heimat Deutschland auf Spurensuche nach dem „Heiligen“ ging? Hatte es damit zu tun, dass man oft das Naheliegende vor der eigenen Haustür nicht sieht und die Exotik des Fernen schneller auf einen wirkt? Aber es gibt auch noch andere, tiefere Gründe. Ich spürte, dass über den deutschen Seelenlandschaften mehrere Schichten lagen, die für mich ihre eigentlichen Tiefendimensionen verbargen: die Gewalttaten der Christianisierung, der Missbrauch durch die Nazis und die Folgen einer profitorientierten Tourismusindustrie. Während ich in Landschaften Skandinaviens und Schottlands hinter ihrer Schönheit auch eine tiefe Geistigkeit wahrnehmen konnte, war das in Deutschland wesentlich schwieriger. Nicht nur war hier die Luft von mehr Auto- und Flugzeuglärm getrübt, sondern viele Orte waren auch derart von Touristen überflutet, dass überhaupt keine spirituelle Stimmung mehr aufkommen konnte. Das erlebten wir etwa am Königsstuhl in Rügen, am Königssee in Bayern und an den Externsteinen im Teutoburger Wald. Zu normalen Tageszeiten war hier an keinen Besuch zu denken, weil Touristen, Imbissbuden und Souvenirgeschäfte die Magie dieser Stätten vollkommen in den Hintergrund drückten. Bei den Externsteinen kam noch etwas anderes hinzu: ihr Missbrauch durch die Völkische Bewegung und die Ideologen des Dritten Reiches. Obwohl es keine Belege für die kultische Nutzung dieses Ortes durch vorchristliche Kulturen gibt, wurde die Externsteine seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem „germanischen Heiligtum“ erklärt und als Kultstätte der SS genutzt. Bis heute versammeln sich dort Rechte und völkisch gesinnte Esoteriker, die diesen Irrglauben fortführen und damit die Atmosphäre dieses an sich wunderbaren Ortes vergiften. Erst durch Fachliteratur, die für mich bei der Erkundung deutscher Seelenlandschaften wichtig wurde, lernte ich, was man wirklich über die spirituelle Bedeutung der Externsteine wissen kann: sie waren im 12. Jahrhundert ein naturverbundenes christliches Heiligtum gewesen, in der Eremiten abseits der Städte nach Gott suchten. [3] Ich musste sofort an den heiligen Franz von Assisi denken, der ebenfalls in entlegenen Felsengrotten meditiert hatte. Es ist natürlich denkbar, dass auch vor der Christianisierung Menschen die Externsteine als ein Heiligtum angesehen haben, aber es gibt dafür keinen archäologischen oder schriftlichen Beweis. Mich störte dieses Fehlen einer „heidnischen“ Komponente nicht und ich konnte mich morgens um sieben Uhr gut in christliche Eremiten einfühlen, die an den Externsteinen ihr Frühgebet im Zusammenklang mit den ersten Vogelstimmen verrichteten. In dieser beseelten Atmosphäre spürte ich die Geistigkeit dieses Ortes und erlebte ihn als eine berührende Seelenlandschaft in Deutschland, in der christliche und naturreligiöse Empfindungen mühelos zusammenklingen konnten.

Bei solchen Exkursionen musste ich öfter an den Wunsch von Novalis denken, der sich durch seine Kunst eine „Aussöhnung der christlichen Religion mit der heidnischen“ erhofft hatte. [4] An zahlreichen Orten in Deutschland konnte dies für mich geschehen, was eine ausgesprochen wohltuende, ja fast heilende Wirkung auf mich ausübte. So etwa auch am „Lichtenklinger Hof“, einem tief im Wald versteckten Marienheiligtum im Odenwald, dessen Ruinen vom Rauschen der Blätter und vom Plätschern eines Brunnens umspielt werden. Dieser speist sich aus einer Quelle, die wohl schon in keltischen Zeiten als etwas „Heiliges“ angesehen wurde und öffnete für mich den Platz in weite historische Räume hinein. Zu den vielen Geschenken, die für die Muttergottes auf den moosbedeckten Steinen drapiert worden waren, gesellten sich alte Sagen, die über den Ort erzählt werden. So soll dort nachts eine „Weiße Frau“ erschienen sein, die die kranken Kinder des Försters in den Schlaf gesungen hat, sowie Elfen, die gelegentlich bei Mondschein über dem Heiligtum tanzten: Erinnerungen an frühere heidnische Vorstellungen eines „Weiblich-Göttlichen“, die sich neben den christlichen erhalten hatten? Solche Erzählungen, zusammen mit den verwitterten Madonnenskulpturen, verwandelten für mich die Ruinen in eine vielschichtige Seelenlandschaft, die offen blieb für eigene Emotionen und Imaginationen: ein „heiliger Ort“ nach meinem Geschmack, der nichts ausschließen musste, sondern Freiräume bot, in denen meine Seele weit werden konnte.

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Seelenlandschaften in Deutschland wurden für mich auch zu Stätten, an denen ich in weit entfernte spirituelle Kulturen zurückreisen konnte, von denen ich in der Schule nie etwas gehört hatte. Als wir in Niedersachsen auf gewaltige Megalithanlagen aus der Jungsteinzeit stießen, staunte ich darüber, dass es solche steinernen Tempel, die ich aus Irland und Wales kannte, auch in Deutschland gab. Vor den Hünengräbern, die oft unter prächtigen alten Bäumen standen, dachte ich an entsprechende Bildmotive von Caspar David Friedrich und an die Aktion „7000 Eichen“ von Joseph Beuys. Es war aufregend zu sehen, dass uralte Vorstellungen von der Heiligkeit von Steinen und Bäumen in unserem Kulturraum über Jahrhunderte weitergelebt und auch vielfältige Ausdrucksformen in der Kunst gefunden hatten. Beuys bezog sich in seiner Aktion, bei der er 1982 auf der documenta in Kassel 7000 kleine Eichenbäumchen neben Basaltstelen gepflanzt hatte, tatsächlich auf Druidenhaine des alten Europa, in denen manchmal Dolmen neben Eichen standen. Und als wir auf der Insel Rügen nach deutschen Seelenlandschaften suchten, fanden wir zahlreiche Megalithgräber unter eindrucksvollen Bäumen, die schon Caspar David Friedrich bewundert und gemalt hatte. Hier trafen sich spirituelle Vorstellungen der Jungsteinzeit mit denen von Künstlern des 19. und 20. Jahrhunderts und führten zu der Frage, warum uns solche 4000 Jahre alten steinernen Heiligtümer immer noch berühren. Drückte sich in ihrer Stabilität ein vorzeitlicher Glaube an etwas Zeitlos-Unsterbliches aus, der auch in uns noch schlummert und der an diesen magischen Orten wieder zum Leben erweckt wird? Bauten diese alten Völker für ihre Toten „Häuser der Ewigkeit“ und gaben ihnen Grabbeigaben mit, in der Hoffnung, dass ihre Seelen auf weite Reisen gehen würden?

An vielen magischen Orten in Deutschland erlebte ich, dass – nach den Worten von Dag Hammarskjöld – „eine Landschaft von Gott singen“ kann, und zwar auf sehr vielfältige Art und Weise. Diese Seelenlandschaften machten mir klar, dass hierzulande auch lange vor der Christianisierung viele spirituelle Traditionen existiert hatten, über die viele Menschen heute kaum mehr etwas wissen. Schon vor 40.000 Jahren fanden in den Höhlen der Schwäbischen Alb animistische Kulte statt und vor 10.000 Jahren gab es auch in unseren Breitengraden schamanische Praktiken. [5] Die dazugehörigen Orte, wie auch die Hünengräber der Jungsteinzeit und die „heiligen Haine“ der Kelten und Germanen spiegeln ein animistisches Weltbild, das zum Kern aller Seelenlandschaften dazugehört: ein Blick, der die Natur als umfassend beseelt sieht. Eine solche Landschaft ist nicht nur ein passiver Raum von Objekten, sondern sie spricht einen an und reagiert selber als eine Art Subjekt.

Während unserer Dreharbeiten an meinem aktuellen Film[6] haben wir solche „sprechenden Landschaften“ im Harz gefunden, im Odenwald, im Mittelrheintal oder auch auf Rügen, wo sie von Caspar David Friedrich gemalt wurden. Vor allem aber der deutsche Wald wurde für uns zu einer exemplarischen hiesigen Seelenlandschaft, weil er in Mythologie und Literatur immer schon mehr war als nur eine Ansammlung von Bäumen. Der deutsche Wald wimmelt von Göttern, Drachen, Feen, Zwergen und sonstigen Naturgeistern: sein geheimnisvolles Dunkel wurde schon vor Jahrtausenden von der Volksphantasie mit mythologischen Wesen bevölkert. Das erfuhren wir z.B. im Odenwald, wo sich zahlreiche Spuren früherer spiritueller Weltbilder finden, die ihn zu einer inspirierenden Region machen: verwitterte Brunnen künden dort von Siegfrieds Tod im Nibelungenlied, alte Eichen von germanischen Baumheiligtümern, römische Tempelreste von einer vergangenen Götterwelt und die Wildenburg von den Sagen rund um den Heiligen Gral. Wolfram von Eschenbach schrieb an diesem Ort um 1200 sein berühmtes Versepos „Parzival“: eine Information, die für uns die ganze Umgebung in einen Zauberwald verwandelte. Plötzlich sahen wir den jungen Abenteurer durch das Dickicht reiten und Rat bei einem alten Weisen in einer Höhle suchen. Im Odenwald fühlten wir uns auch dem Helden Siegfried nahe, wie er mit dem Zwerg Alberich streitet, einen Drachen erschlägt und schließlich von Hagen an einer Quelle ermordet wird.

Doch nicht nur die Dichter des „Parzival“ und des „Nibelungenliedes“ haben den Wald als einen mysteriösen Bereich dargestellt, sondern auch die Brüder Grimm, in deren Märchen er eine herausragende Rolle spielt. Darin ist der Wald ein Initiationsort, in dem die Protagonisten Prüfungen begegnen, die zu ihrer seelischen Reifung beitragen. Sprechende Tiere können dabei als Hilfsgeister wirken, die Warnungen oder Ratschläge geben und manchmal ereignen sich auch Verwandlungen zwischen Mensch und Tier. Wandert man mit solchen Erzählungen durch deutsche Wälder, beginnen sie zu leben und zu flüstern, und es öffnen sich spirituelle Blicke auf die Natur, wie sie für ältere Kulturen selbstverständlich waren. Die christlichen Missionare aber sahen im Wald einen wilden und unheimlichen Ort, sie begannen ihn nicht nur zu roden, sondern erklärten ihn zu einem Aufenthaltsort von Dämonen. Man kann davon ausgehen, dass Bezeichnungen wie „Teufelsstein“, „Teufelsaltar“, „Grüne Hölle“ oder „Heidenopfertisch“ dazu dienten, ehemalige heidnische Kultplätze zu verunglimpfen: die Menschen sollten davon abgehalten werden, dort zu ihren alten Göttern zu beten. Das belegen alte Bußbücher, die Strafen für diejenigen androhten, die an heiligen Felsen, Bäumen oder Quellen Opfergaben niederlegten. Doch heute findet man solche Gaben wieder an zahlreichen alten Kraftorten, die naturreligiös gesinnte Menschen dort deponierten. So wurden unsere Wanderungen durch die deutschen Märchenwälder auch zu Begegnungen mit alten spirituellen Vorstellungen, etwa am Frau Holle-Teich am Hohen Meißner oder an den Matronen-Altären in der Eifel. Hier sang die Landschaft noch intensiv von den alten Göttern und gewann so einen ganz neuen Zauber zurück. Wir spürten eine große Wertschätzung für das All-Belebte um uns herum, für die großen und kleinen Wunder vor unseren Augen und unter unseren Füssen. So lernten wir auf unseren Exkursionen, wie reich auch Deutschland an magischen Orten war, die wir jahrelang nur im Ausland gesucht hatten. Diese Reisen vermehrten nicht nur unser Wissen, sondern gaben uns auch emotionale Wärme und ein spirituelles Heimatgefühl, das wir so vorher nicht kannten: wunderbare Geschenke in einer schnelllebigen und aufgeregten Zeit, die uns oft von unseren eigentlichen seelischen Tiefen fortreißt und in der echte geistige Orientierungspunkte immer wichtiger werden.

Mehr über meine Filme und Bücher: www.ruedigersuenner.de


[1] Siehe Rüdiger Sünner: The Tree of Life-Auf den Spuren von Dag Hammarskjöld in Lappland,

siehe https://www.ruedigersuenner.de/meine-filme/

[2] Siehe Rüdiger Sünner: Seelenlandschaften: Spirituelle Orte in Schottland, siehe https://www.ruedigersuenner.de/meine-filme/

[3] Vgl. Larissa Eikermann, Stefanie Haupt, Roland Linde, Michael Zelle (Hrsg.): Die Externsteine. Zwischen wissenschaftlicher Forschung und völkischer Deutung, Aschendorff Verlag Münster 2018

[4] Siehe Novalis Werke, hg. und kommentiert von Gerhard Schulz, Studienausgabe, Verlag C.H.Beck München 1987, 288

[5] Siehe etwa Harald Meller/ Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin: Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen.  Rowohlt Verlag Hamburg 2022

[6] “Seelenlandschaften: Spirituelle Orte in Deutschland“, siehe https://www.ruedigersuenner.de/meine-filme/

Buch zum Film im Scorpio-Verlag, vgl. https://www.scorpio-verlag.de/Buecher/568/Seelenlandschaften.html


ÜBER DEN GASTAUTOR

Rüdiger Sünner ist Buchautor, Filmproduzent und Musiker und lebt in Berlin. In seinen Werken erkundet er spirituelle, kulturelle und historische Strömungen, oft mit einem kritischen Blick auf deren Licht- und Schattenseiten. Bekannt wurde er unter anderem durch seinen Film Schwarze Sonne, der sich mit rechter Esoterik auseinandersetzt. In seinem neuen Buch Seelenlandschaften – Spirituelle Kraftorte in Deutschland (ET Februar 2025) spürt er den spirituellen Traditionen des Landes nach – von neolithischen Hünengräbern über keltische und germanische Kultstätten bis hin zu christlichen Pilgerorten und den heiligen Orten der Romantiker.

RISING UP verlost das neue Buch von Rüdiger Sünner “Seelenlandschaften – Spirituelle Kraftorte in Deutschland” (ET Februar 2025)

FOTOS: Rüdiger Sünner

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