Gastbeitrag: Der umgekehrte Weg der Heilung und Transformation
Eine Reise zurück zu deinem Ursprung
Heilung ist ein umgekehrter Tanz: Sie beginnt im Jetzt, bei einem auslösenden Moment, führt uns zurück zu einem vergangenen Ereignis – und bringt uns schließlich mit neuen Einsichten, einem erneuerten geistigen, emotionalen und körperlichen Erleben wieder in die Gegenwart.
Vom verletzten Kind zum schöpferischen Erwachsenen
Heilung ist ein Reifungsprozess – der Wandel vom verletzten Kind, das unbewusst unser Leben steuert, hin zum bewussten, reifen Erwachsenen, der unsere Realität gestalten möchte.
Dabei begegnen wir einem früheren traumatischen Ereignis – einem Moment von plötzlicher oder wiederholter Übergriffigkeit oder Vernachlässigung durch eine bedeutende Bezugsperson. Dieses prägt tiefgreifend unsere inneren Glaubenssätze und Lebensweisen.
Diese neuen Überlebensstrategien lagern sich – wortwörtlich – im hinteren Teil unseres Gehirns ab, dort, wo das alte Reptilienhirn sitzt, oder sie verschwinden in die tieferen Schichten unseres Bewusstseins. Von dort aus wirken sie fort – als sich wiederholende, belastende Muster, Gewohnheiten, fixierte Interessen oder Ideologien.
Sie werfen uns immer wieder aus unserem natürlichen Fluss von Wachstum und Entfaltung. Nicht, weil sie „böse“ sind, sondern weil sie einst einen schützenden Zweck erfüllten: Sie wollten uns vor jenen unerträglichen Empfindungen bewahren – und gleichzeitig sind sie heute ein Weckruf, um die Reise der Heilung anzutreten.
Drei Schichten des Traumas
Erste Schicht: Das traumatische Ereignis – „Das Ereignis“
Ein Trauma kommt oft überraschend – ob als plötzlicher Schock oder leise, anhaltende Verletzung. Ob es als Invasion oder Vernachlässigung erlebt wird: Eine unschuldige, empfindsame Seite in uns wurde tief verletzt. Je jünger wir damals waren, desto stärker war seine Wirkung.
Zweite Schicht: Die Entstehung blockierender Glaubenssätze
Nach dem Ereignis sind wir oft allein geblieben – verwirrt, überfordert, ungeliebt. Uns fehlten die Mittel, unser Nervensystem zu regulieren oder zu verstehen, was geschah. Dieses „Alleingelassenwerden“ ist entscheidend für die Entwicklung jener inneren Überzeugungen, die ich hier als aktivierende Blockierglaubenssätze (ABB) bezeichne – innere Melodien, gespeist aus neuronalen Prägungen, die uns fortan begleiten.
Dritte Schicht: Die neue Lebenspraxis – Überlebensstrategien
Unser brillantes System entwickelt neue Wege, sich zu schützen. So entsteht ein innerer Job – der Job des inneren Wachpostens. Wir lernen, bestimmte Gefühle zu vermeiden, zu unterdrücken, zu bekämpfen, zu erstarren oder das Außen zu kontrollieren, um sie nie wieder fühlen zu müssen.
Die Auslöser – Trigger als Alarmsystem
Im Rahmen dieser neuen Lebensstrategie entwickeln wir ein inneres Radar, das ständig prüft: Bin ich hier sicher oder nicht? Sobald ein äußeres Signal an das damalige Ereignis erinnert, wird ein innerer Alarm ausgelöst – mental, emotional, körperlich. Das sind unsere Trigger. Fühlen wir uns sicher, öffnen wir uns. Fühlen wir uns bedroht, ziehen wir unsere Schutzmechanismen hoch.
Ein Beispiel: Das Kind und die Welle
Stell dir einen ruhigen, stillen See vor. Dann fällt ein Stein hinein – eine große Welle entsteht, breitet sich aus. Die Welle symbolisiert das Trauma.
Ein kleines Mädchen, etwa drei Jahre alt, sitzt ahnungslos vor dem Fernseher. Neugierig beginnt sie, ihren Körper zu erkunden, empfindet neue, angenehme Empfindungen. Dann betritt der Vater den Raum, erschrickt, reagiert überfordert: „Was machst du da? Wenn du sowas machen willst, geh in dein Zimmer!“ Er spricht in hartem Ton – das Kind läuft davon.
Die erste Welle – das traumatische Lernen
Allein im Zimmer ist das Mädchen nun überfordert, beschämt, verwirrt. Die Erfahrung war invasiv und gleichzeitig vernachlässigend. Niemand kommt nach, um ihr Nähe oder Sicherheit zu geben.
Körperlich-emotionale Ebene
Die körperliche Empfindung wird mit Scham überlagert. Der Körper speichert: „Etwas ist falsch an mir.“ Der Moment wird tief ins Nervensystem eingebrannt – als Schutz für ähnliche künftige Erfahrungen.
Mentale Ebene
Könnte man das Mädchen fragen, würde sie vielleicht – in Kindersprache – sagen: „Sich gut fühlen ist schlecht“, „Freude tut weh“, „Yamm ist bääh“. Diese kindlichen Schlussfolgerungen werden zu tief sitzenden Glaubenssätzen wie: „Wenn ich mich öffne, werde ich beschämt.“ – „Wenn ich genieße, werde ich abgelehnt.“
Die zweite Welle – das erwachsene Leben
Zwanzig Jahre später: Das Mädchen ist nun eine junge Frau – doch das Muster wirkt weiter. Zwei typische Reaktionen:
- Die Vermeiderin: Sie verzichtet ganz auf Nähe, Sinnlichkeit, Intimität. Bei kleinsten Triggern verfällt sie in Flucht, Erstarrung oder Aktionismus. Beziehungen sind kaum möglich. Schuld, Scham und tiefe Traurigkeit prägen ihr Leben.
- Die Suchende: Sie jagt dem Genuss hinterher – Sex, Reisen, körperliche Erfahrungen. Aber alles bleibt leer. Sie versucht, durch äußere Reize zu beweisen, dass sie „es wert ist“, zu genießen. Doch sie bleibt frustriert, erschöpft, bindungslos.
Die dritte Welle – der Same und der Baum
Die aktivierenden Blockierglaubenssätze sind wie Samen, tief im Unbewussten gepflanzt. Sie wachsen zu Bäumen, deren Früchte wir nie gewollt haben: unerfüllte Beziehungen, wiederkehrende Muster, berufliche Sackgassen, vertraute Gefühle von Einsamkeit oder Ablehnung.
Der Hilferuf – und der Wendepunkt
Irgendwann kommt der Moment, wo es nicht mehr geht. Der innere Schrei wird laut: „Genug! Ich will das nicht mehr!“ Das ist der Beginn der eigentlichen Heilungsreise.
Der umgekehrte Weg der Heilung – zurück zur Quelle
Die Quelle ist jener Zustand vor dem Ereignis: kindlich, offen, neugierig, verbunden. Doch der Weg dorthin führt durch das Feuer – durch das Ereignis selbst. Es gibt keine Abkürzung.
Nicht mehr allein – die vertrauensvolle Begleitung
Wir haben gelernt, allein zu kämpfen. Doch diesmal brauchen wir jemanden an unserer Seite – einen Menschen, der bleibt, wenn es weh tut. Der nicht retten, fixen oder heilen will. Vielleicht eine Partnerin, Freundin, Therapeutin.
Von Dysregulation zur Co-Regulation
Heilung geschieht, wenn wir gemeinsam im Schmerz verweilen können. Nicht weglaufen, nicht schönreden – sondern dableiben. Gemeinsam in der „Oxidationsgrube“ sitzen. Dadurch entsteht eine neue Körpererfahrung. Neue Nervensignale. Neue neuronale Verbindungen. Sicherheit entsteht dort, wo einst Gefahr war.
Von Scham zu Akzeptanz und Liebe
Mit einem liebevollen Zeugen können wir das verletzte Kind besuchen – diesmal als reife, bewusste Erwachsene. Wir sagen Ja zu den Emotionen, die wir einst verdrängt haben. Wir tanzen mit ihnen, statt sie zu bekämpfen. Und plötzlich verwandeln sich Angst und Scham in Akzeptanz und Liebe. Unser innerer Raum weitet sich. Unsere emotionale Kapazität wächst.
Vom Gefühl zur Sprache – das ganze Gehirn einbeziehen
Es reicht nicht, nur zu fühlen. Heilung braucht auch Sprache. Wir wandern von der Rückseite des Gehirns, wo Erinnerungen lagern, zum Frontallappen, wo neues Denken entsteht. Vom rechten Gehirn, das das Erleben hält, zum linken, das Worte findet.
Der innere Wandel der Bewusstheit
Unser verletztes Kind sitzt hinten im Kopf. Unser bewusster Erwachsener vorne. Heilung ist eine Bewegung von wenigen Zentimetern – und gleichzeitig ein Quantensprung.
Wenn du innehältst, wenn du dich selbst erkennst, im getriggerten Moment: „Ah – das ist mein Kind am Steuer“ – dann kannst du dein Kind bitten, sich auszuruhen. Und dein bewusster Schöpfer übernimmt das Steuer.
Neue innere Sätze – neue Glaubenswelten
Anstelle der blockierenden Glaubenssätze treten öffnende, responsive Glaubenssätze. Sie erinnern uns an unser neues Selbst. Beispielsweise:
- „Ich bin ein Quell der Freude.“
- „Meine Sinnlichkeit ist meine Lebenskraft.“
- „Mein Genuss ist meine Stärke.“
Sie bringen uns zurück in den Sitz unserer inneren Autorität – vom Opfer zur Gestalterin unseres Lebens.
Rückfall? Natürlich – und kein Rückschritt
Selbst mit den besten Affirmationen braucht es mehr als Worte. Transformation geschieht tief. Selbst nach intensiver Heilung werfen uns neue Herausforderungen oft zurück in alte Muster. Das ist kein Scheitern – es ist ein Zeichen für Wachstum.
Die Ausdehnung unseres inneren Gefäßes
Neue Lebensphasen – eine Beziehung, ein Kind, ein Jobwechsel, ein Umzug – triggern oft unsere alten Ängste. Doch diese Angst ist nicht Feind – sie ist oft der Beweis: Du dehnst dich aus. Atme. Und verwandle die Angst in Neugier.
Zurück zur Quelle
Der Zauber liegt im letzten Schritt zurück – zu dem, was du warst, bevor das Ereignis dich formte. Unschuldig. Lebendig. Offen. Kreativ. Liebevoll.
Wenn du ein Bild von dir als Kind betrachtest – kannst du dich erinnern? Das bist du. Das warst du. Das bist du immer noch.
Es ist nie zu spät, neu zu beginnen.
Heilung ist, dich selbst wiederzuerkennen – jenseits der Muster, jenseits der Blockaden. Du bist nicht hier, um dich zu verstecken oder klein zu machen. Du bist hier, um dich zu erinnern.
Die Heilung ist eine Reise der Transformation – ein schöpferischer Akt. Sie führt uns vom Bekannten ins Unbekannte, von der Oberfläche in die Tiefe. Sie schenkt uns nicht nur Linderung – sondern die Rückkehr zu dem, was wir im tiefsten Inneren sind.
In Ehrung an: Shai Orr, meinen Lehrer, dessen Ansatz des Miraculous Parenting (MPT) mir Mut und Werkzeuge gab, um Einzelne und Gruppen in bewegenden Heilungsprozessen zu begleiten.
GASTKOMMENTAR von IDAN MEIR – Hier zu den Events von Idan