Grundhaltungen der Achtsamkeit: Die Kunst der Nicht-Bewertung
In einer Welt, die in Kategorien denkt, Urteile fällt und alles in gut oder schlecht einteilt, ist die Praxis der Nicht-Bewertung eine radikale Haltung. Sie fordert uns auf, die Dinge so zu sehen, wie sie sind – ohne sie sofort zu interpretieren oder zu bewerten. Diese Haltung ist eine der zentralen Grundpfeiler der Achtsamkeitspraxis und geht tief in die Philosophie des menschlichen Daseins hinein. Doch was bedeutet Nicht-Bewertung genau? Warum ist sie so essenziell, und welche Einsichten kann sie uns über uns selbst und die Welt offenbaren?
Die Natur der Bewertung – Ein Automatismus des Geistes
Unser Geist ist darauf programmiert, alles in gut und schlecht, angenehm und unangenehm, richtig und falsch einzuteilen. Dieses Denken ist tief in unserer Evolution verankert – es half uns, Gefahren zu erkennen und schnelle Entscheidungen zu treffen. Doch in der heutigen Zeit, in der nicht mehr jede Situation eine unmittelbare Bedrohung darstellt, führt diese automatische Bewertung oft zu Stress, Unzufriedenheit und inneren Konflikten. Der Buddhismus und die Achtsamkeitslehre lehren daher, sich von dieser ständigen Urteilsfällerei zu befreien und eine offene, wertfreie Haltung gegenüber dem Leben einzunehmen.
Laozi, der Begründer des Daoismus, erkannte bereits vor Jahrtausenden: „Wenn du aufhörst, Gut und Böse zu unterscheiden, dann enthüllt sich die große Wahrheit.“ Dieser Gedanke deutet an, dass unser Bedürfnis, alles zu bewerten, uns letztlich von der tieferen Erkenntnis des Seins entfernt.
Nicht-Bewertung als meditative Achtsamkeits-Praxis
Die Praxis der Nicht-Bewertung bedeutet nicht, dass wir unser Urteilsvermögen aufgeben oder naive Gleichgültigkeit entwickeln. Vielmehr geht es darum, bewusst wahrzunehmen, ohne vorschnell in Kategorien zu denken. In der Meditation wird dies geübt, indem man Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen kommen und gehen lässt, ohne sie zu analysieren oder als „gut“ oder „schlecht“ zu deklarieren. Dies ermöglicht eine tiefere Verbindung mit dem gegenwärtigen Moment.
Jon Kabat-Zinn, einer der Pioniere der modernen Achtsamkeitspraxis, beschreibt diese Haltung als einen Weg, sich aus der Gefangenschaft der eigenen Bewertungen zu lösen: „Solange wir in Bewertungen verhaftet bleiben, sind wir Gefangene unserer eigenen Vorurteile und Erwartungen.“ Erst durch das bewusste Loslassen dieser Bewertungen können wir eine unvoreingenommene Offenheit entwickeln.
Der Wert der Nicht-Bewertung im Alltag
Was geschieht, wenn wir aufhören, Menschen, Situationen oder uns selbst zu bewerten? Plötzlich entsteht Raum für Akzeptanz und Mitgefühl. Indem wir das Leben so nehmen, wie es sich entfaltet, ohne es mit unseren Vorstellungen zu überlagern, entwickeln wir eine tiefere Gelassenheit. Die Praxis der Nicht-Bewertung bedeutet nicht Passivität, sondern ein waches, klares Bewusstsein für das, was ist.
Der römische Philosoph Epiktet formulierte es treffend: „Die Menschen werden nicht durch die Dinge selbst beunruhigt, sondern durch die Meinungen, die sie über die Dinge haben.“ Wenn wir uns dieser Tatsache bewusst werden, erkennen wir, dass unser Leiden oft aus unseren Interpretationen und nicht aus den Ereignissen selbst entsteht.
Achtsamkeit – Nicht-Bewertung: Erkenntnisse und transformative Kraft
Die größte Einsicht, die aus der Praxis der Nicht-Bewertung erwächst, ist die Erkenntnis, dass wir nicht unsere Gedanken oder Urteile sind. Wir lernen, eine Distanz zwischen uns und unseren Bewertungen zu schaffen – eine Distanz, die Freiheit bedeutet. Je mehr wir diese Haltung kultivieren, desto weniger werden wir durch innere und äußere Umstände erschüttert.
Sören Kierkegaard bringt diese Einsicht in einem einfachen, aber tiefgründigen Satz auf den Punkt: „Das Leben kann nur rückwärts verstanden, aber muss vorwärts gelebt werden.“ Wenn wir uns dem Fluss des Lebens mit einer Haltung der Nicht-Bewertung nähern, erlauben wir uns, den gegenwärtigen Moment in seiner ganzen Tiefe zu erfahren, ohne ihn ständig in gut oder schlecht einzuordnen.
Schlussgedanken zu Achtsamkeit: Nicht-Bewertung
Nicht-Bewertung ist keine einfache Haltung, aber sie ist eine, die unser Leben grundlegend transformieren kann. Sie lehrt uns, mit offenem Herzen zu begegnen, ohne sofort zu urteilen. Sie erlaubt uns, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind – nicht wie wir sie gerne hätten. Und vielleicht liegt genau darin der tiefste Frieden, den wir finden können.
Übungen zu Achtsamkeit: Nicht-Bewertung
1. Die Gedanken-Wolken-Übung
Ziel: Gedanken wahrnehmen, ohne sie zu bewerten.
Anleitung:
- Setze dich in eine bequeme Position und schließe die Augen.
- Beobachte deine Gedanken, als wären sie Wolken, die am Himmel vorbeiziehen.
- Anstatt an einem Gedanken festzuhalten oder ihn zu bewerten („Das ist ein guter/schlechter Gedanke“), lasse ihn einfach ziehen.
- Sage dir innerlich: „Es ist nur ein Gedanke“, ohne ihn weiter zu analysieren.
- Übe dies für 5–10 Minuten täglich.
Erkenntnis: Gedanken sind vorübergehend, und wir müssen sie nicht als absolute Wahrheit betrachten.
2. Die Neutrale Wahrnehmung im Alltag
Ziel: Situationen bewusst erleben, ohne sofort in eine Bewertung zu verfallen.
Anleitung:
- Wähle eine alltägliche Situation, z. B. eine Wartezeit an der Kasse oder ein Gespräch mit einer herausfordernden Person.
- Achte bewusst darauf, was in dir passiert – welche Gedanken und Gefühle aufsteigen.
- Anstatt sie als „gut“ oder „schlecht“ zu etikettieren, nimm sie einfach als das wahr, was sie sind.
- Falls du bemerkst, dass eine Bewertung kommt („Das ist unfair!“ oder „Das ist nervig!“), erkenne sie an, aber lasse sie weiterziehen.
- Sage dir innerlich: „Es ist, wie es ist.“
Erkenntnis: Ereignisse sind oft neutral – wir geben ihnen erst durch unsere Interpretation eine Bedeutung.
3. Die Spiegel-Übung – Menschen wertfrei begegnen
Ziel: Andere Menschen ohne voreilige Urteile betrachten.
Anleitung:
- Begegne heute bewusst einem Menschen, den du normalerweise schnell bewerten würdest (z. B. eine laute Person im Zug oder ein Kollege mit einer anderen Meinung).
- Beobachte dein erstes Urteil („Das ist unhöflich“ oder „Der ist unsympathisch“).
- Frage dich dann: „Was weiß ich wirklich über diesen Menschen?“
- Versuche, ihn ohne Kategorien wie „gut/schlecht“ zu betrachten – einfach als Mensch mit seiner eigenen Geschichte.
- Falls du es schwer findest, stelle dir vor, du würdest ihn zum ersten Mal sehen, ohne jeglichen Hintergrund.
Erkenntnis: Unsere Bewertungen über Menschen sind oft geprägt von Vorannahmen, die nicht der Realität entsprechen.
1 Kommentar
Sabine
Danke für diesen Artikel. Welch Freiheit wenn man wahrnehmen darf, zumindest temporär aus dem Bewertungsrad ausgestiegen zu sein.